10.12.03

10 - Mind your shoes

Vor ca. 15 Jahren hatte ich meinen ersten Kulturschock. Nach langjährigen Aufenthalten in Linz und Wien konnte meine nächste Station eigentlich nur Berlin, London oder New York heißen. Wie das Schicksal aber so spielt, verschlug es mich in ein kleines mittelfränkisches Örtchen namens Hüttendorf. Am Vorabend noch die Töne des Presslufthammers in den Ohren – es wurde gerade die U3 gebaut – befand ich mich am nächsten Tag in einem 300 Seelendorf, das jetzt meine Heimat sein sollte. Das einzige Geräusch, welches zur Abendzeit mein Ohr erreichte, war das Muhen der Kühe im Stall zu meiner rechten. Ab und an konnte ich ein leises Gackern aus dem Hühnerstall zu meiner linken vernehmen – der Rest war Grillenzirpen. Das Fehlen sämtlichen Lärmes wurde allerdings ausgeglichen durch eine völlig neue Geruchswelt. Was heisst Geruch! Wenn man in diesem Dorf aus dem Auto stieg, wurde man von einer Geruchswand bestehend aus 90% Gülle, 5% Kuhfladen, etwas Stallgeruch sowie ein klein wenig Hollunder von Nachbars Baum in Innere des Autos zurückgeworfen. Mein größter körperliche Wunsch zu dieser Zeit war, meine Haut zum atmen zu bringen.

Eines Tages ging ich in den örtlichen Laden. Das erste was mir auffiel, war eine neue Duftkombination. Eine Mischung aus verfaultem Käse, Pisse und gestockter Gülle, begleitet von einem leicht säuerlichen Beigeschmack. Ich erstarrte.
Mein erster Gedanke: „Bin das ich?“
Mein zweiter Gedanke: „Könnte jemand annehmen, dass ich das bin?“
Mein dritter Gedanke: „Hab ich das, was so stinkt, eventuell bereits hier gekauft und gegessen?“
Vorsichtig sah ich mich um. Die Besitzerin des Ladens unterhielt sich an der Kasse mit einer Frau, die ich bisher nur von der Ferne gesehen hatte. Eine Nachbarin, wesentlich älter aussehend als sie offensichtlich war, etwas schmutzig, etwas heruntergekommen. Sie leerte gerade das zweite Fläschchen des billigen Cognacs, der in solchen Läden meist an der Kasse steht. Als ich mich den beiden näherte, wurde der Geruch immer stärker. Es bestand kein Zweifel: es war die alte Dame, die so stank – bestialisch. Ich wusste vorher nicht, dass ein Mensch so riechen kann. Außer als Leiche.

Die Ladenbesitzerin Frau H. war dennoch sehr nett zu der alten Dame, steckte ihr noch ein paar Nahrungsmittel zu, ein weiteres Fläschchen und verabschiedete sich freundlich von ihr.

An mich gewandt meinte sie danach, Schultern zuckend: „jo mei, die Baaabett“.

Das hat mir an dem Dorf gefallen. Dass auch die gefallenen Seelen aufgefangen werden, als Teil des Ganzen so angenommen werden, so wie sie nun mal sind.

Das einzige was ich hoffte war, dass die alte Dame nie - aber auch wirklich nie - zu Weihnachten ihre Schuhe rausstellen würde.