18.06.03

Decknamen

Es ist schon äußerst interessant, was für Decknamen aus welchen Gründen verschiedene Leute verwenden. Das fängt an (oder besser gesagt hört auf) beim Internet, den Chats, den Foren.

Wo es anfängt weiß ich nicht...

Mein Interesse geweckt hat die Systematik der Namensvergabe erstmals bei der Enttarnung der diversen Stasi-IMs und deren Opfer. Diese Decknamen hatten was eigenartiges und teilweise komisches an sich. Einerseits fürchterlich altbacken passten Sie dennoch meist wie die Faust aufs Auge zum jeweiligen Namensträger - und brachten mich immer zum Schmunzeln. Beispiel: Lothar de Maziere = Czerny = der langweiligste Klavierübekomponist mit dem eine 10 jährige Tochter gequält werden kann.

Interessanter Artikel zur Stasi-Decknamen-Vergabe HIER

AUSZUG DARAUS:

Jeder Spitzel besaß beim MfS einen eigenen, individuellen Decknamen. Vergeben wurde er mit der Verpflichtungserklärung des IM. (....)

Häufig wurden Kurzformen des eigenen Vornamens mit dem Kosesuf- fix »I« gebildet. »IM Siggi« hieß ursprünglich Silke, »IM Addi« stand für Adelheid und »IM Hardy« für Harald. Anspielungen auf den Familiennamen waren mindestens ebenso verbreitet. DDR-Bürger namens Licht und Winter nannten sich »IM Dunkel« und »IM Sommer«. Auffällig ist auch die enge Verbindung zwischen beruflicher Tätigkeit und Pseudo- nym. Juristen bezeichneten sich als »IM Notar«, Lehrer im Hochschul- dienst als »IM Pädagoge«, Kellner gaben sich als »IM Biermann« aus, Friseusen schließlich als »IM Figaro«.

Ein eher indirekter Berufsbezug wird im übertragenen Namengebrauch erkennbar. Dafür offenbart er einen ironisch-doppeldeutigen Hintersinn: »IM Mikrobe« arbeitete als Kreishygieneinspektor, »IM Brücke« war Zahnarzt und »IM Rohr« Meister für Heizung und Sanitärtechnik. Andere Decknamen verweisen auf Übereinstimmung zwischen Tarnnamen und Spitzelhandwerk: »IM Kontrolle« wurde bei Observationen einge- setzt, »IM Melder« war als Ermittler tätig, »IM Nebel«, »IM Klette« und »IM Angriff« stellten sich ganz bewusst in den Dienst des MfS. Dabei durften graduierte Wissenschaftler ihren Titel im Decknamen behalten.

Demgegenüber hatte das Benennen nach Künstlern, Vorfahren und Verwandten eher eine symbolische Funktion: Hofften die »IM Einstein«, »IM Don Quichote« und »IM Faust« vielleicht, im Decknamen dem SED-Staat etwas Widerständiges entgegenzusetzen? Oder wollten »IM Peter Maf- fay« und »IM Picasso« der Stasi nur das Wesen bürgerlich-dekadenter Kultur erklären, sozusagen im konspirativen Zwiegespräch?

Die Decknamen der inoffiziellen Stasi-Mitarbeiter hatten eine paradoxe Aufgabe zu lösen. Sie mussten den IM für die Öffentlichkeit unkenntlich machen und ihm gleichzeitig zu einer zweiten Identität verhelfen: als Ansprechpartner und Mit- glied des Ministeriums für Staatssicherheit. Dieser unsichtbare Tauschhandel ließ Menschen symbolisch verschwinden. Und das ist konstitutiv für die Verfolgungsapparate moderner Gesellschaften: das staatliche Bedürfnis nach individueller Identifizierbarkeit von Menschen mittels sprachlicher Erkennungszeichen. Auch wenn es Stasi-Spitzeln vorbehalten war, den Decknamen frei zu wählen, so transportierte er dennoch einen realen massiven Druck.

Andererseits boten Tarnnamen die Möglichkeit der Anspielung oder des kritischen Kommentars. Sie waren sozusagen ein sprachliches Ventil, sich zustimmend oder ablehnend gegenüber dem SED-Staat zu äußern. Die Stasi nahm das offensichtlich in Kauf - vielleicht im Bewusstsein, bei so manchem inoffiziellen Mitarbeiter als Gesprächs- partner oder gar als Ort realer Veränderung in der DDR ge- sehen zu werden. Wie bei allen Geheimdiensten standen auch die Decknamen und Sprachregelungen der Staatssicherheit für ein Prinzip. Und das hieß: Konspiration und verdeckte Einflussnahme.

Posted by L9 at 21:52 | Doppelleben